Als mir im
April 2011 Anne Neumann, eine Freiwillige aus Jena, vorschlug, doch einmal zu
versuchen, einen Antrag zur Teilnahme an einem Freiwilligenprojekt in Jena zu
stellen, überlegte ich nicht lange und antwortete gleich: „Da will ich hin!“
Schon so lange hatte ich von Deutschland geträumt, dass es mir beinahe
gleichgültig war, an welchem Projekt ich mitmachen würde. Dabei hatte ich mit
Jena richtig Glück!
Bald schon stellte sich aber heraus, dass der Begriff „Freiwilliger“ von Russen
und Europäer je ganz anders verstanden wird. Freiwilliger zu sein, bedeutet für
die Mehrheit der Russen nicht mehr als „jemandem bei etwas unentgeltlich, ohne
Bezahlung“ zu helfen. Dabei assoziieren den Begriff nicht alle gleich mit
Begriffen wie Wohltätigkeit, Uneigennützigkeit oder Hilfsbereitschaft. In
erster Linie verbinden viele das Wort mit kostenloser Arbeit, mit einer
Beschäftigung, die nichts einbringt. Daran, dass diese Arbeit auch eine
moralische Befriedigung oder ein höheres Selbstwertgefühl sowie Stolz auf das
Verrichtet bringen kann, denkt nicht jeder gleich. Man sieht derlei sogar eher
skeptisch. Solange man keine rechte Vorstellung davon hat, sich nicht auskennt.
Doch selbst wer vom Hörensagen weiß, was Freiwilligenarbeit bedeutet, muss sich
jedes Mal wieder durch den dunklen Wald aus Unverständnis und Unkenntnis
kämpfen.
Ganz anders sieht das zugegebenermaßen in Europa aus. Schon in den
Nachkriegsjahren entstanden, richtete die Freiwilligenbewegung in Europa ihre
Kräfte auf den Wiederaufbau der zerstörten Welt. Heute genießt
Freiwilligenarbeit in Europa hohes Ansehen. Gleich welche Initiativen junger
Menschen mit dem Ziel, unsere Welt zu verbessern, erhalten finanzielle
Unterstützung. Es gibt recht viele Förderprogramme, darunter auch staatliche.
Eines der bekanntesten nennt sich „Jugend in Aktion“, läuft seit 2007 und endet
in diesem Jahr. Im Rahmen dieses Programms konnte auch ich mitwirken.
Das Ausfüllen des Antrags, ein langer Briefwechsel per E-Mail mit der mir
damals noch unbekannten Heide Bäß, das quälende Warten auf die
Teilnahmebestätigung am Programm, die drei Termine im Deutschen Konsulat in
Moskau, um das Visum zu erhalten, – all das lag endlich hinter mir. Und schon
setzen mich meine Freunde in den Bus nach Moskau. „Lebt wohl! Für ein ganzes
Jahr! Aber ich komme bestimmt wieder!“ Der Bus, der Kursker Bahnhof, die Metro,
der Pawelezker Bahnhof, der Zubringer nach Domodedowo, der gewaltige Flughafen,
das Flugzeug. Da ist es! Das langersehnte Flugzeug nach Berlin! Der
Abschiedsschmerz von der Anreise nach Moskau macht der Vorfreude auf das neue
Leben Platz, voller unbekannter Erlebnisse.
Aus dem Fenster ist endlich der Fernsehturm auf dem Alexanderplatz zu erkennen.
Der Flughafen Tegel. Mein Gepäck hatte man aus welchem Grund auch immer schon
vom Band genommen und wurde offenbar irgendwohin weitergeleitet. Ich war wohl
zu lange an der Paßkontrolle angestanden. Eine Frau, die überhaupt kein Deutsch
sprach, fand sich in der gleichen Notlage wieder. Sie geriet allmählich in
Panik. Es war ihre erste Deutschlandreise, und da begannen gleich schon die
Probleme mit dem Gepäck. Ich bewahrte aber die Ruhe. Irgendwo tief drinnen
wußte ich, dass ich gerade hier keinen Grund zur Sorge hatte. Hier funktioniert
alles wie in einem Uhrwerk. Unser Gepäck fanden wir schließlich ebenso mühelos
wie den Weg zum Bus.
Berlin, Hauptbahnhof. Heide Bäß hatte mir per E-Mail eine seltsame Nummer
geschickt, von Hand geschrieben auf ein gescanntes Blatt, die ich in den Fahrkartenautomaten
eingeben sollte… Gut, dass mein alter Freund Sebastian, der im März 2010 in
Wladimir zu Gast war, Zeit gefunden hatte, mich am Bahnhof zu treffen und mir
gleich auch mit der Fahrkarte zu helfen! Und da ist er schon, der ICE, dieser
futuristische Schnellzug, wie ich ihn von Bildern aus Deutschland kannte! Und
ich hatte einen Sitzplatz dort reserviert. Jetzt kann auch ich diese
Geschwindigkeit genießen. Doch dann hatte die Sache doch gar nichts
Übernatürliches an sich. Auch nicht mehr als einfach ein
Hochgeschwindigkeitsverkehrsmittel. Zumal ja auch bei uns der Sapsan schon
lange läuft, gekauft bei Siemens.
Rasch kam nun der langersehnte Moment: Ankunft in Jena. Schon allein der Name
des Bahnhofs ist vielversprechend – Paradies. Anne Neumann mit ihren Freunden,
Heide Bäß und André Güllmar, mein Tutor bei der neuen Arbeit. Alle waren sie
gekommen, mich abzuholen. Welche Ehre! Eine ganze Delegation. Fehlte nur noch
das Empfangsorchester! Willkommen im Paradies!
Am meisten freilich begeisterte mich das Freiwilligenseminar in Weimar, in der
Europäischen Jugendbegegnungsstätte. Da kamen zwanzig junge Freiwillige aus
ganz Europa und den Nachbarländern zusammen. Nie zuvor hatte ich eine solche
Menge derart interessanter und so unterschiedlicher Leute an einem Ort unter
solchen Umständen getroffen. Nie zuvor hatte ich so viel in so kurzer Zeit in
einer kleinen, aber internationalen Gruppe von Menschen erlebt, und dergleichen
werde ich wohl auch nie mehr mitmachen können: Spiele zum Kennenlernen und Kommunizieren,
improvisiertes Theater, Diskussion schwierigster politischer Fragen, ein
Augenzeugenbericht über die schreckliche Lage in Palästina, ein Besuch von
Buchenwald, Frisbee-Spielen auf dem Rasen im historischen Zentrum von Weimar,
der Geburtstag von Magda aus Polen, das russische Lied von Krokodil Gena auf
Deutsch “Wenn die Fußgänger flitzen / tapsend über die Pfützen” am nächtlichen
Lagerfeuer, Diskotheken mit Tanz zu Musik aus aller Herren Länder, der
Mischmasch aller europäischen Sprachen tagtäglich, das dauernde Übersetzen ins
Deutsche, Englische, Französische, Spanische, Ungarische, Russische…
Ich werde diese Momente und diese Menschen, mit denen ich zusammenlebte, nie
vergessen. Diese gerade einmal zehn Tage haben viele von uns unwahrscheinlich
zusammengeschweißt. Wir treffen uns immer noch. Viele sind in Berlin wohnen
geblieben, andere sind wieder zurückgekehrt, überallhin in Europa. Und ihre
Türen stehen mir immer offen! Man wird mich immer wie den eigenen Bruder
aufnehmen und ein Plätzchen zum Übernachten finden. Offene Türen, Wärme und
Behaglichkeit überall und für alle, zumindest in Europa. Gegenseitiges
Verstehen und Freundschaft, Offenheit und Hilfsbereitschaft. Dafür lohnt es zu
leben, darauf lohnt es, seine Kräfte und Zeit zu verwenden. Zeit, um Brücken zu
bauen und Türen zu öffnen. Und war das nicht auch das ureigene Ziel dieses
ganzen Freiwilligenprogramms? Ein besonderes Dankeschön an die Europäische
Jugendbegegnungsstätte in Weimar für die Küche bei diesem Seminar! Derart viele
Käsesorten habe ich noch nie zuvor zum Frühstück angeboten bekommen.
Ein ganzes Jahr verging so. Noch nie zuvor hatte ich so hautnah wie im Verlauf
dieses Jahres verspürt, wie groß und zugleich klein und zerbrechlich unsere
Welt doch ist. In diesem Jahr habe ich viel begriffen, ich habe eine Menge
Sachen erlebt, war an sehr interessanten Orten und in den unterschiedlichsten
Situationen zugegen.
Ich bin all denen dankbar, die in dieser ganzen Zeit an meiner Seite standen.
Ich bin Cornelia Bartlau und Heide Bäß für ihre Organisationsarbeit in der
Eurowerkstatt Jena e.V. dankbar. Danke an Euch für die Unterstützung in
schweren Momenten, die es natürlich auch gab. Dank an das Team vom
Jugendzentrum Eastside für die herzliche Atmosphäre, in der ich dieses Jahr
verbrachte, und dafür, daß sie mich in ihre Familie aufgenommen haben. Danke,
André, Katharina, Isa, Anina und Liebi! Danke für die Erfahrung und für Eure
Ratschläge. Dank an alle ehrenamtlichen Mitarbeiter im
Eastside: Felix, Fritzi, Annika, Mirri, Claudia, Dascha, Flo
und Luisa, Sandra und die anderen. Mein Gruß geht an alle Praktikanten, mit
denen ich die Zeit verbrachte, besonders an Albert, der mir in der Anfangszeit
half, mich einzuleben, und der später selbst als Freiwilliger nach Rumänien
ging.
Und natürlich wünsche ich Kateryna Erfolg, einer Freiwilligen aus Kiew, die
nach mir, im Jahr 2012, zur Arbeit ins Eastside gekommen war, und mit der ich
mich bei der gemeinsamen Projektarbeit angefreundet habe. Natürlich wünschen
wir alle Anna Kulakowa, der nächsten Freiwilligen aus Wladimir, die im
September 2013 die Arbeit aufnehmen will, gutes Gelingen bei der
Antragsstellung. Dank an alle Freiwilligen, mit denen ich wie in einer Familie
zusammenlebte. Natürlich werde ich Euch alle noch besuchen, dort in Barcelona
oder in Nitra, in der Slowakei. Und natürlich werden wir uns eines Tages auch
alle in Jena wiedersehen!
Iwan Nisowzew (aus dem Russischen von Peter Steger)